Freitag, 22. Januar 2016

Nur eine Soloübung mit dem Holzsäbel

Bereits bei meinen ersten Begegnungen mit meinem Karate-Lehrer bemerkte ich seine Affinität zum Holzsäbel (Bokutō). Sehr oft beobachtete ich, wie er vor dem Training zum Bokutō griff, um damit ein paar simple Übungen auszuführen. Besonders eine von ihnen wirkte wirklich seltsam. Mit der Zeit lernte ich sie und erhielt von ihm viele wichtige Hinweise zur richtigen und zielgerichteten Ausführung dieser wirklich eigenartig anmutenden Übung.

Er lernte diese Übung vom verstorbenen Okuyama Tadao Sensei, weswegen ich sie einfach „Okuyama-Übung“ nenne (neben „Bokutō-Übung 2“). Aus geschichtlicher Sicht ist diese Holzsäbelübung also eine jüngere Ergänzung in meiner Karate-Linie. Sie stammt gewiss nicht von Funakoshi Gichin Sensei. Mein Karate-Lehrer erzählte mir, dass das Bokutō von Okuyama Sensei am Griff regelrecht schwarze Handabdrücke aufwies, die ein Zeichen für Okuyama Senseis starke Greifkraft sind.

Für Außenstehende tritt beim Betrachten der „Okuyama-Übung“ ein Verständnisproblem auf. Denn sie lehrt einem nicht, einen Widersacher mit einem japanischen Säbel zu filetieren. Sie ist kein religiöses Ritual, keine Show, keine geheime Technik, und sie kann nicht bunkaiisiert werden. Ich als Übender stehe eigentlich nur in der Gegend rum und halte ein Bokutō senkrecht in die Luft. Das Bokutō bewegt sich dabei ein wenig. Und das war es schon, also von außen betrachtet.

Die eigentliche Arbeit findet für den Betrachter unsichtbar unter meiner Haut statt. Ziel der „Okuyama-Übung“ ist der Aufbau und die Verfeinerung meines Karate-Körpers. Tatsächlich ähnelt sie als Soloübung den herkömmlichen Kata des Karate. Die beiden auffälligen Unterschiede zu den Kata sind:

  1. Ich halte einen Holzsäbel.
  2. Ich bewege mich nicht im Raum von A nach B.

Das Bokutō erhöht die Wirkung der Übung, und durch die fehlenden Bewegungen kann ich mich intensiver auf all die subtilen Punkte meiner Körperstruktur und –mechanik konzentrieren. Trotz der äußerlichen Schlichtheit der Übung (oder gerade ihretwegen) gibt es eine Vielzahl größerer und kleinerer Punkte, die ich theoretisch kennen und dann praktisch umsetzen muss. Schritt für Schritt wächst die „Okuyama-Übung“ sozusagen zu einer immer anspruchsvolleren und tiefgründigeren Trainingsform. Ohne ständige Anleitung ist es allerdings aussichtslos, echten Nutzen aus ihr zu ziehen. Als ich vor wenigen Jahren dachte, ich verstünde sie schon ansatzweise, konnte ich nicht wissen, was ich später noch hinzulernen würde. Und dabei handelt es sich doch „nur“ um eine simple Soloübung mit dem Holzsäbel …

In ihr bündeln sich mehrere Elemente anderer notwendiger Soloübungen meines Karate. Dadurch ermöglicht sie ab einem bestimmten Verständnisniveau (ich meine theoretisches und vor allem körperliches Verständnis) in kürzerer Übungszeit einen mit vielen verschiedenen Übungen vergleichbaren Nutzen. Deswegen werden die anderen Übungen natürlich nicht hinfällig. Tatsächlich wirkt sich der Nutzen der „Okuyama-Übung“ direkt auf alle anderen Solo- und Partnerübungen aus.

Jedenfalls ist die „Okuyama-Übung“ ein fester Bestandteil des Lehrgebäudes meines Karate-Lehrers und damit meines Trainingsalltags. Sie ist also kein überflüssiges „fünftes Rad am Wagen“ meines Karate. Sie ist mit anderen Übungsformen vernetzt und ist ohne die anderen Übungsformen nur bedingt sinnvoll. Über die Bedeutung und verschiedene Aspekte eines in sich schlüssigen Karate-Lehrgebäudes schreibe ich ausführlich in meinem Buch „Karate. Kampfkunst. Hoplologie“.

© Henning Wittwer

Montag, 11. Januar 2016