Montag, 13. April 2015

Karate-Lehrgänge: öffentlich & nicht öffentlich

Ich unterscheide zwischen öffentlichen und nicht öffentlichen Karate-Lehrgängen. Wenn mich ein Interessent einlädt, einen Karate-Lehrgang zu leiten, lautet eine meiner ersten Fragen, ob er öffentlich sein soll oder nicht. Heute klingt das vielleicht komisch, tatsächlich wurde Karate aber lange Zeit nicht öffentlich weitergegeben. Für mich sind die beiden Hauptgründe für diese Unterscheidung in der heutigen Zeit:

  1. das Vorrecht des Gastgebers und
  2. die zielgerichtete inhaltliche Gestaltung des Lehrgangs.

Mein Gastgeber trägt die gesamte organisatorische und finanzielle Last des Lehrgangs. Daher hat er von meiner Warte aus das Recht zu entscheiden, ob er den Lehrgang allein Mitgliedern seiner Übungsgruppe zugänglich machen möchte oder nicht. Durch die heute übliche Mentalität des „Internet-Sensei scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass jeder alles über Karate wissen oder erfahren könne. Internet-Memes, Filmchen u. ä. von Bunkaiisten, Anhängern des Sport-Karate oder sonstigen „Experten“ zeigen quasi täglich, wie absurd diese Vorstellung ist. Sie belegen die schiere Inkompetenz dieser Internet-Sensei auf dem Feld des herkömmlichen Karate. Und sie zeigen deutlich, dass öffentlich zugängliches Wissen in vielen Fällen eher zweifelhaft als nützlich ist.

Möchte mein Gastgeber also lieber einen nicht öffentlichen Lehrgang, dann kann ich den praktischen und theoretischen Stoff entsprechend den Kenntnissen und Bedürfnissen dieser Übungsgruppe vorbereiten. Ist meinem Gastgeber ein öffentlicher Lehrgang lieber, dann weiß ich, dass ich den Stoff für ein Teilnehmerfeld vorbereiten muss, das über verschiedenartige Kenntnisse verfügt. Beides bringt Vor- und Nachteile mit sich.

Ein Vorteil des öffentlichen Lehrgangs ist die Möglichkeit, mit Karate-Anhängern verschiedenartiger Hintergründe zu trainieren. Ein damit zusammenhängender Nachteil besteht darin, dass durch die verschiedenartigen Hintergründe mehr Zeit zum Vermitteln eines Punkts – den wirklich alle Teilnehmer verstehen und umsetzen können sollen – nötig ist. Alles, was ich auf meinem Lehrgang vermittle, sollte von jedem einzelnen Teilnehmer innerhalb seines Lehrgebäudes nutzbringend weiter geübt werden können. Stammen alle Teilnehmer aus ein und demselben Lehrgebäude, ist dementsprechend weniger Zeit zum Vermitteln nötig.

Ein Vorteil des nicht öffentlichen Lehrgangs ist der vertraute Umgang der Teilnehmer untereinander. Er ermöglicht ein viel tieferes Ausloten des Übungsstoffs gemeinsam mit dem Trainingspartner. Häufig wollen einander unbekannte oder weniger bekannte Teilnehmer dem jeweils anderen beweisen, dass sie „stärker“ sind, über ein besseres Verständnis verfügen usw. Ein damit einhergehender möglicher Nachteil ist eine bei zwei miteinander vertrauten Partnern einsetzende Lethargie bzw. Passivität. So kann ein Partner dem anderen durch bloßes Hinnehmen das trügerische Bild vermitteln, dass er den Stoff ausreichend gut umsetzte. Mein Ziel ist das Vermitteln von echtem Verständnis, nicht das Aufbauen eines Trugbilds von „Verständnis“.

Mit anderen Worten, Gastgeber und Teilnehmer sollten einen nicht öffentlichen Lehrgang mit einer anderen Erwartungshaltung angehen als einen öffentlichen Lehrgang.

© Henning Wittwer