Dienstag, 14. Juli 2015

Jitte und die Überinterpretation

Jitte gehört zu den Kata der Shōtōkan-Strömung, deren Herkunft und Geschichte recht gut belegt sind. Auch ihre technischen Schwerpunkte wurden früh beschrieben. Asato Ankō Sensei sagte aus, dass in Jitte die „obere Stufe“, die „mittlere Stufe“ und die „untere Stufe“ ausgearbeitet werden. Dieser Punkt klingt zunächst – zu Recht! – banal. Mit weiteren mündlichen Unterweisungen geht damit aber auch ein gründliches Verständnis für den eigenen Körper und seinen wirkungsvollen Einsatz einher.

Nun weiß ich das und trainiere dementsprechend. Ich weiß aber auch, dass Jitte zu den prominenten Opfern von Überinterpretation gehört. Leute, die sich Karate eher selbst zusammenreimen, und es nie richtig (also auch langfristig) von einem – ernsthaft! – guten Karate-Lehrer lernten, sind meist die Täter.

Mein persönlicher Spitzenreiter einer solchen Überinterpretation im Karate ist die Aussage, dass Jitte eine Kata sei, die „früher“ oder „ursprünglich“ mit einem Kampfstock ausgeführt wurde. Mit anderen Worten soll (!) Jitte also den Umgang mit dem Stock gelehrt haben. Dass die Überinterpreten keine einzige Quelle von „früher“ vorweisen können, in der diese „ursprüngliche“ Ausführung mit Stock belegt wird, scheint niemanden zu stören.

Einige „Experten“ teilten ihre überinterpretierten „Stock-Jitte“ mit dem Internet (Foto und Film). Erheiternd finde ich jede einzelne davon, die ich bislang sah. Selbstverständlich ist Jitte keine Stock-Kata, der der Stock abhandenkam. Zwei allgemeine Probleme, die damit einhergehen, möchte ich kurz benennen:
  1. Shōtōkan-Ryū verfügt bereits über eigene Kata mit dem Stock, d. h. es besteht gar keine Notwendigkeit, eine dazu zu basteln.
  2. Egami Shigeru Sensei empfahl, die unbewaffneten Kata mit der Vorstellung einen Stock zu halten oder tatsächlich mit einem Stock in den Händen auszuführen. Seine Empfehlung bezieht sich auf alle Kata, besagt aber nicht, dass der Übende dadurch den Umgang mit dem Stock erlernt.
Karate lernt man nicht durch raten. Jitte für eine Stock-Kata zu halten ist raten …

© Henning Wittwer

Montag, 13. April 2015

Karate-Lehrgänge: öffentlich & nicht öffentlich

Ich unterscheide zwischen öffentlichen und nicht öffentlichen Karate-Lehrgängen. Wenn mich ein Interessent einlädt, einen Karate-Lehrgang zu leiten, lautet eine meiner ersten Fragen, ob er öffentlich sein soll oder nicht. Heute klingt das vielleicht komisch, tatsächlich wurde Karate aber lange Zeit nicht öffentlich weitergegeben. Für mich sind die beiden Hauptgründe für diese Unterscheidung in der heutigen Zeit:

  1. das Vorrecht des Gastgebers und
  2. die zielgerichtete inhaltliche Gestaltung des Lehrgangs.

Mein Gastgeber trägt die gesamte organisatorische und finanzielle Last des Lehrgangs. Daher hat er von meiner Warte aus das Recht zu entscheiden, ob er den Lehrgang allein Mitgliedern seiner Übungsgruppe zugänglich machen möchte oder nicht. Durch die heute übliche Mentalität des „Internet-Sensei scheint die Auffassung vorzuherrschen, dass jeder alles über Karate wissen oder erfahren könne. Internet-Memes, Filmchen u. ä. von Bunkaiisten, Anhängern des Sport-Karate oder sonstigen „Experten“ zeigen quasi täglich, wie absurd diese Vorstellung ist. Sie belegen die schiere Inkompetenz dieser Internet-Sensei auf dem Feld des herkömmlichen Karate. Und sie zeigen deutlich, dass öffentlich zugängliches Wissen in vielen Fällen eher zweifelhaft als nützlich ist.

Möchte mein Gastgeber also lieber einen nicht öffentlichen Lehrgang, dann kann ich den praktischen und theoretischen Stoff entsprechend den Kenntnissen und Bedürfnissen dieser Übungsgruppe vorbereiten. Ist meinem Gastgeber ein öffentlicher Lehrgang lieber, dann weiß ich, dass ich den Stoff für ein Teilnehmerfeld vorbereiten muss, das über verschiedenartige Kenntnisse verfügt. Beides bringt Vor- und Nachteile mit sich.

Ein Vorteil des öffentlichen Lehrgangs ist die Möglichkeit, mit Karate-Anhängern verschiedenartiger Hintergründe zu trainieren. Ein damit zusammenhängender Nachteil besteht darin, dass durch die verschiedenartigen Hintergründe mehr Zeit zum Vermitteln eines Punkts – den wirklich alle Teilnehmer verstehen und umsetzen können sollen – nötig ist. Alles, was ich auf meinem Lehrgang vermittle, sollte von jedem einzelnen Teilnehmer innerhalb seines Lehrgebäudes nutzbringend weiter geübt werden können. Stammen alle Teilnehmer aus ein und demselben Lehrgebäude, ist dementsprechend weniger Zeit zum Vermitteln nötig.

Ein Vorteil des nicht öffentlichen Lehrgangs ist der vertraute Umgang der Teilnehmer untereinander. Er ermöglicht ein viel tieferes Ausloten des Übungsstoffs gemeinsam mit dem Trainingspartner. Häufig wollen einander unbekannte oder weniger bekannte Teilnehmer dem jeweils anderen beweisen, dass sie „stärker“ sind, über ein besseres Verständnis verfügen usw. Ein damit einhergehender möglicher Nachteil ist eine bei zwei miteinander vertrauten Partnern einsetzende Lethargie bzw. Passivität. So kann ein Partner dem anderen durch bloßes Hinnehmen das trügerische Bild vermitteln, dass er den Stoff ausreichend gut umsetzte. Mein Ziel ist das Vermitteln von echtem Verständnis, nicht das Aufbauen eines Trugbilds von „Verständnis“.

Mit anderen Worten, Gastgeber und Teilnehmer sollten einen nicht öffentlichen Lehrgang mit einer anderen Erwartungshaltung angehen als einen öffentlichen Lehrgang.

© Henning Wittwer