Donnerstag, 18. August 2011

Die Gōrei-Krankheit

Gōrei“ ist ein cooler, japanischer Begriff, der soviel wie „Kommando“ bedeutet. Gōrei sind häufig Zahlen, die im Kommandoton in Richtung der Karate-Schüler schallen. Etwa so:

Ichi ! – Ni ! – San ! – Shi ! – Go !“

Oder:

Ichi ! – Ni ! – San ! – Kiai !”

Natürlich können sie auch auf Deutsch gegeben werden (aber japanische Zahlen klingen irgendwie kompetenter…). Wahrscheinlich weiß jeder Karateka, was mit Gōrei gemeint ist. Daß Gōrei im Karate historische Gründe haben, erklärte ich schon an anderer Stelle und ich möchte sie hier nicht wiederholen.

Ich selbst lernte regelrecht von einem japanischen Sensei, wie ich (seiner Ansicht nach) ordentliche Gōrei zu geben habe, also in welcher Lautstärke, in welchem Tonfall, in welchem Timing in bezug zu den Schülern und in bezug zu meiner eigenen Technik.

Gōrei können unglaublich gut dabei helfen, unmotivierte Leute anzuheizen, eine Trainingsgruppe zu motivieren, die Laune und die Aufmerksamkeit zu steigern. Mit richtig eingesetzten Gōrei kann ein Rhythmus kreiert werden, Techniken sehen und fühlen sich zackiger oder auch kontrollierter an. Ein Karateka, der gut mit Gōrei umgehen kann, steht mit seinen Kommandos einem Drill Instructor kaum mehr nach. Und weil Gōrei so toll sind, müßte mal jemand auf die Idee kommen, einen Tonträger mit Gōrei auf den Markt zu bringen – „Karate mit Beats“ oder so ähnlich…

Wie auch immer. Nachdem ich bei meinem Karate-Lehrer anfing, war eines der ersten Dinge, das er bei mir diagnostizierte, etwas, das ich mal als die „Gōrei-Krankheit“ bezeichnen möchte. Gōrei fressen sich unmerklich in den Körper und den Geist eines Karateka. Einmal befallen, gibt es nur eine Möglichkeit, sich von den Symptomen zu befreien: Nie wieder Gōrei verwenden, weder aktiv, noch passiv! Aber dies geht – und das schreibe ich aus leidiger Erfahrung – nur sehr langsam und mühevoll.

Das Weglassen der Gōrei selbst ist relativ einfach (also wenn man sich nicht gerade innerhalb eines Umfeldes, das von Größen des Sport-Karate oder seiner Institutionen geprägt ist, bewegt). Doch die Symptome der Gōrei-Krankheit lassen sich nur sehr mühselig beseitigen. Wie genau diese Symptome aussehen, soll an anderer Stelle besprochen werden. Jetzt nur soviel: Die Gōrei-Krankheit wirkt sich auf die technische Wirksamkeit des Karate aus – und zwar ganz grundlegend. Sie behindert oder verhindert – abhängig von der Zielstellung des Keiko selbstverständlich – technischen Fortschritt.

Genau deswegen haben Gōrei keinen Platz im Karate meines Sensei und damit in meinem Karate.

Wichtig wäre noch festzuhalten, daß Gōrei ganz klar „nur“ ein Stein innerhalb eines – im Idealfalle – in sich schlüssigen Lehrgebäudes sind. D.h., nur durch ihre Beseitigung allein entsteht nichts, das plötzlich mehr Güte oder Wert hätte. Dennoch hat jeder Stein im Lehrgebäude eine Bewandtnis oder besser eine Wirkung, die sich positiv oder negativ bei der angestrebten Verwirklichung meines Trainingsziels bemerkbar macht.

© Henning Wittwer