Montag, 19. Dezember 2011

Karate ist kein Yakuza-Fighting

Manchmal verlautbaren Leute, die sich für befähigt halten, ein solches Urteil abzuliefern, daß Karate „unrealistisch“ und ungeeignet für „die Straße“ sei. Mit „Karate“ meinen sie das, was sie selbst so aus ihrem meist nicht wirklich weiten Umfeld als „Karate“ kennen und für „Karate“ halten. Was oder wo genau „die Straße“ ist, läßt sich so leicht nicht beantworten, aber meist dürfte es sich dabei um eine eher diffuse Metapher für eine Situation handeln, in der sich jemand in einer nicht sportlichen Schlägerei wiederfindet oder als Opfer eines tätlichen Überfalls endet. Je nach Grad der Cleverness – weil wer den Durchblick hat, ist clever – werden dann Mixed Martial Arts (MMA), Krav Maga (KM) oder Supreme-Anti-Agonistic-Real-Terror-Vital-Point-Street-Defence-Jitsu (SAARTVPSDJ) – „Jitsu“ mit ‚i‘ – als „realistische“ Alternativen feilgeboten. Und damit verbunden entsteht ein Bild davon, wie ein „realistischer“ Kampf und folglich eine „realistische“ Vorbereitung auf denselben auszusehen hat. Klar, Karate kommt diesem Bild dann zumeist ganz und gar nicht nahe…

Ausweg aus dieser Misere ist, daß Karate „angepaßt“ werden „muß“, entweder subtil durch Integration von bunkaiistischen Lehren (die nichts anderes sind als MMA, KM, SAARTVPSDJ usw., welche in ein Karate-Korsett gezwängt wurden, um diesen bereits vorhandenen Markt nutzen zu können) oder direkt durch parallel laufendes Zusatztraining in MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. Kurzum, nur wer diesem MMA-artigen Bild des sich prügelnden Kämpfens nahekommt, trainiert und ist „realistisch“!

Doch auch in einer Übungsform des Sport-Karate, die in Deutschland unverständlicherweise häufig „Randori“ genannt wird, findet manchmal nichts anderes als grobschlächtiges, mehr oder weniger „kontrolliertes“ Herumgeprügel statt. Dies läuft gerne mal unter dem Motto „nur die Harten kommen in den Garten“. Sorry, mit technisch ausgereiftem Karate hat so etwas nichts zu tun!

Kinder prügeln sich auf Schulhöfen – ohne jemals Karate oder gar MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. trainiert zu haben. D.h., prügeln kann sich jeder. Je öfter sich jemand prügelt, desto versierter prügelt er sich. Um einfach mal „draufzukloppen“, brauche ich schlicht gar nichts trainieren.

Lange Rede, kurzer Sinn: Karate hat nichts mit einer Prügelei zu tun.

Funakoshi Gichin Sensei lehrte: „Karate ist die Kampfkunst der vollkommen tugendhaften Menschen (Kunshi).“

Einer seiner vielen Schüler, Kubota Shōichi Sensei, betonte: „Karate ist keine Rauftechnik (Kakutō-Gi).“

Und mein eigener Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, meint beispielsweise: „Karate ist kein Yakuza-Fighting.“

Aus technischer Sicht wäre es Zeit- und Energieverschwendung, einer technisch derartig tiefgründigen Kampfkunst wie Karate nachzugehen, wenn der Trainierende sich eigentlich nur hin und wieder mal prügeln oder in der Annahme einkuscheln will, daß er durch seine Trainingsteilnahme bestimmt als „Sieger“ aus künftigen Schlägereien hervorgehen wird. In diesen Fällen sind MMA, KM, SAARTVPSDJ usw. tatsächlich die sinnvollere Wahl.

Technisches Ziel im Budō-Karate ist die möglichst schnelle Beendigung einer kämpferischen Situation, nicht ein in die Länge gezogener Schlagaustausch. Und eben auf Grund dieses anspruchsvollen Ziels ist ein enormer Trainingsaufwand (und ein tatsächlich kompetenter Sensei) notwendig. Mein Trainingsziel diktiert Inhalt und Methode meines Trainings. Verfolge ich also ein anderes Ziel, wird es Zeit, mich dem Training einer anderen Kampfkunst, einem Kampfsport oder was auch immer zu widmen. Halte ich andererseits das technische Ziel des Budō-Karate für „realistisch“, erreichbar und erstrebenswert, dann muß ich auch demgemäß trainieren. Denn Wischiwaschi erzeugt Wischiwaschi…

© Henning Wittwer

Freitag, 7. Oktober 2011

Shōtōkan Stock Lehrgang in Basel, Schweiz

Für den 5. und 6. November 2011 erhielt ich eine freundliche Einladung in die Schweiz, nach Basel, um dort einen Karate-Lehrgang abzuhalten. Thema dieses Lehrgangs wird der Stock ( bzw. Kon) aus dem Shōtōkan sein.

Samstag Vormittag starten wir mit einem Vortrag zu den geschichtlichen, philosophischen und technischen Hintergründen des Stocks aus dem historischen Shōtōkan-Dōjō (1938-1945).

Dann folgt das schrittweise Erlernen des Ablaufs der Kata Shūji no Kon, welche im Shōtōkan-Ryū die Kihon-Gata mit dem Stock darstellt. Trainingsziel ist, daß jeder Teilnehmer den Ablauf nach dem Wochenende drauf hat, um ihn danach allein und seiner Shōtōkan-Ausprägung gemäß weiterüben zu können.

Natürlich führen wir zur Unterstützung jede Menge Partnerübungen durch, so daß nicht nur die Technik selbst klar wird, sondern auch die technische Verbindung von Stock und leerer Hand im Shōtōkan-Ryū.

Der Lehrgang dient der Einführung in das Thema, d.h. vor allem ist er für Karateka gedacht, die noch keine Erfahrungen mit dem Shōtōkan-Stock besitzen. Grundsätzlich sind Mitglieder aller Shōtōkan- und Shōtōkai-Gruppierungen willkommen. Jedoch sollten die Teilnehmer keine Anfänger sein und zumindest die Abläufe der ersten drei Heian-Formen kennen. Ein eigener (ca. 1,82 m) wäre auch mitzubringen.


Zeitplan:


Samstag
9:oo - 12:oo Uhr und 14:oo - 17:oo Uhr


Sonntag
10:oo - 13:oo Uhr

Trainingsort:

Turnhalle Missionsstrasse 21
4055 Basel
Schweiz

Fragen können gerne an mich oder an den Veranstalter gerichtet werden.

© Henning Wittwer

Donnerstag, 18. August 2011

Die Gōrei-Krankheit

Gōrei“ ist ein cooler, japanischer Begriff, der soviel wie „Kommando“ bedeutet. Gōrei sind häufig Zahlen, die im Kommandoton in Richtung der Karate-Schüler schallen. Etwa so:

Ichi ! – Ni ! – San ! – Shi ! – Go !“

Oder:

Ichi ! – Ni ! – San ! – Kiai !”

Natürlich können sie auch auf Deutsch gegeben werden (aber japanische Zahlen klingen irgendwie kompetenter…). Wahrscheinlich weiß jeder Karateka, was mit Gōrei gemeint ist. Daß Gōrei im Karate historische Gründe haben, erklärte ich schon an anderer Stelle und ich möchte sie hier nicht wiederholen.

Ich selbst lernte regelrecht von einem japanischen Sensei, wie ich (seiner Ansicht nach) ordentliche Gōrei zu geben habe, also in welcher Lautstärke, in welchem Tonfall, in welchem Timing in bezug zu den Schülern und in bezug zu meiner eigenen Technik.

Gōrei können unglaublich gut dabei helfen, unmotivierte Leute anzuheizen, eine Trainingsgruppe zu motivieren, die Laune und die Aufmerksamkeit zu steigern. Mit richtig eingesetzten Gōrei kann ein Rhythmus kreiert werden, Techniken sehen und fühlen sich zackiger oder auch kontrollierter an. Ein Karateka, der gut mit Gōrei umgehen kann, steht mit seinen Kommandos einem Drill Instructor kaum mehr nach. Und weil Gōrei so toll sind, müßte mal jemand auf die Idee kommen, einen Tonträger mit Gōrei auf den Markt zu bringen – „Karate mit Beats“ oder so ähnlich…

Wie auch immer. Nachdem ich bei meinem Karate-Lehrer anfing, war eines der ersten Dinge, das er bei mir diagnostizierte, etwas, das ich mal als die „Gōrei-Krankheit“ bezeichnen möchte. Gōrei fressen sich unmerklich in den Körper und den Geist eines Karateka. Einmal befallen, gibt es nur eine Möglichkeit, sich von den Symptomen zu befreien: Nie wieder Gōrei verwenden, weder aktiv, noch passiv! Aber dies geht – und das schreibe ich aus leidiger Erfahrung – nur sehr langsam und mühevoll.

Das Weglassen der Gōrei selbst ist relativ einfach (also wenn man sich nicht gerade innerhalb eines Umfeldes, das von Größen des Sport-Karate oder seiner Institutionen geprägt ist, bewegt). Doch die Symptome der Gōrei-Krankheit lassen sich nur sehr mühselig beseitigen. Wie genau diese Symptome aussehen, soll an anderer Stelle besprochen werden. Jetzt nur soviel: Die Gōrei-Krankheit wirkt sich auf die technische Wirksamkeit des Karate aus – und zwar ganz grundlegend. Sie behindert oder verhindert – abhängig von der Zielstellung des Keiko selbstverständlich – technischen Fortschritt.

Genau deswegen haben Gōrei keinen Platz im Karate meines Sensei und damit in meinem Karate.

Wichtig wäre noch festzuhalten, daß Gōrei ganz klar „nur“ ein Stein innerhalb eines – im Idealfalle – in sich schlüssigen Lehrgebäudes sind. D.h., nur durch ihre Beseitigung allein entsteht nichts, das plötzlich mehr Güte oder Wert hätte. Dennoch hat jeder Stein im Lehrgebäude eine Bewandtnis oder besser eine Wirkung, die sich positiv oder negativ bei der angestrebten Verwirklichung meines Trainingsziels bemerkbar macht.

© Henning Wittwer

Dienstag, 12. Juli 2011

Shūji no Kon: Die grundlegende Stock-Kata im Shōtōkan-Ryū

Nachdem ich bereits ein paar Worte zu den Kata Hangetsu und Tekki verloren habe, möchte ich mal auf Shūji no Kon zu sprechen kommen. Shūji no Kon ist eine Kata, die den Umgang mit dem Kampfstock (Kon oder ) schult. Diesbezüglich ist sie die Kihon-Gata im Karate-Dō Shōtōkan Ryū. Wenn also ein Karate-Schüler im Shōtōkan-Ryū an den Umgang mit dem Stock herangeführt wird, geschieht dies zu Beginn mittels Shūji no Kon.

Wie alle Kata innerhalb des Shōtōkan-Ryū verfügt Shūji no Kon über bestimmte systemimmanente Merkmale, die sie von den Versionen anderer Ryūha (oder Organisationen) unterscheidet. (Ich erwähne das, weil ich schon öfter gefragt wurde, ob es denn Unterschiede zwischen der Shōtōkan-Fassung und anderen Shūji no Kon gibt.)

Und genau dieser Punkt macht die Sache so faszinierend und wertvoll!

Jedenfalls gehört – wie bei allen Kihon-Gata – die geringe Anzahl an Bewegungen zu ihren Attributen. Tsuki und Uchi-Komi sind die ersten Techniken mit dem Stock, die ein Neuling mittels dieser Kata lernt. Die Stände, Fußbewegungen, der „Karate-Körper“ usw. bleiben dabei dieselben, wie bei den Kata ohne Stock. Und es wäre widersinnig, wenn dem nicht so wäre.

Gleichzeitig dürfte dem Neuling dabei ein weiterer, fundamentaler Unterschied zwischen Budō und Sport klar werden. Plötzlich wird mit einer Waffe trainiert, die richtig wehtun und gefährlich werden kann. Da ist nämlich ein Unterscheid zwischen einem blauen Auge, das ich mir „im Ring“ einfange, und einer Stockspitze, die sich in mein Auge (oder das des Gegners) bohrt… Allein für diese Erkenntnis würde sich die Übung von Shūji no Kon lohnen.

Ein weiteres technisches Merkmal ist die „Einseitigkeit“ dieser Kata. D.h., während der gesamten Kata befindet sich meine rechte Hand vorn am Stock und dieser Griff wird nicht gewechselt.

Im Shōtōkan-Ryū gilt die Formel „leere Hand als erstes, Waffen später“. Also sollten Karateka zuerst die Kihon-Gata Taikyoku, Heian und Tekki lernen und danach mit Shūji no Kon fortsetzen. Erfolgt der Lernprozeß nicht Schritt für Schritt, kann ein Lernerfolg fraglich werden oder ganz ausbleiben.

Schließlich ist vielleicht noch der Stock selbst nicht ganz unwichtig. Obwohl eigentlich jede -Form (die mehr oder weniger 1,82 m lang sein sollte) verwendet werden kann, war die im historischen Shōtōkan (1938-1945) bevorzugte eine mit dünner werdenden Enden, bei der folglich die Mitte den größten Durchmesser hat. Es sollte sich um einen einsatztauglichen, schweren Stock handeln und nicht um ein dünnes, leichtes „Wettkampfmodell“. Letzteres wäre dem eigentlichen Training im Budō-Karate schlicht nicht zuträglich.

© Henning Wittwer

Sonntag, 19. Juni 2011

Training in Freiberg

Einer meiner Trainingspartner, Rico Fuchs, studiert in der schön gelegenen Stadt Freiberg. Nicht zufällig begab ich mich also vergangene Woche mit zwei weiteren Mitgliedern unserer Gruppe in diese sächsische Universitätsstadt. Als Sahnehäubchen sollte unserem gemeinsamen Training dort wunderbares Wetter aufgesetzt werden.

Ausgangspunkt unseres Keiko bildete die Kata Kankū, der wir Sakugawa no Kon folgen ließen. Im Partnertraining nutzte ich die Anfangsbewegung aus Kankū, den Tsuki no Maru, um die Verbindung zwischen Kata und Kumite zu festigen. Selbstverständlich meine ich damit nicht, daß wir uns dem „Bunkai“ hingaben. Nein, wirklich nicht!


Vielmehr hilft diese Bewegung beim Finden und Einstellen des „Karate-Körpers“, wie es Harada Sensei nennt. Dabei gibt es unglaublich viel zu beachten und auszufeilen und falsch zu verstehen. Einziger Ausweg: Üben, Nachjustieren, Um-die-Ecke-denken, weitertrainieren…

Hinzu kam, darauf aufbauend, schließlich noch die Problematik des Einschlagtimings. Karate-Körper und Timing sind zwei Elemente für eine wirksame Technik. Alles in allem sehr viel Stoff und doch nur ein Bruchteil unseres Lehrgebäudes.

Anbei ein, zwei Bilder, die einen kleinen Eindruck von unserem Keiko in Freiberg vermitteln.

Motiviertes und intensives Training!

© Henning Wittwer

Freitag, 10. Juni 2011

Osae

Jedes Training – selbstverständlich auch das Karate-Training – steht auf einer theoretischen Basis. Technische Fertigkeit (Waza) beruht im Karate ebenso auf einer theoretischen Basis. Das Verständnis einer solchen theoretischen Basis ist sehr hilfreich, wenn es darum geht, technischen Irrwegen und Sackgassen aus dem Weg zu gehen. Und fraglos hilft es auf die eine oder andere Weise bei der eigentlichen körperlichen Umsetzung.

Auf meinen Karate-Wanderungen stellte ich fest, daß alle der besseren japanischen Sensei ein solches theoretisches Gerüst im Hinterkopf hatten. Einige hielten sich nur daran, ohne es in Worte zu fassen. Andere hielten sich daran und versuchten, es gleichzeitig in verbaler Form zu vermitteln. (Ich formulierte die letzten Sätze so, weil es leider auch Leute gibt, die vor allem in der Theorie zu Hause sind. Aber das ist ein anderes Thema…)

Nun ist ein ziemlich wichtiger Punkt der der Krafterzeugung, die Frage also, wie bekomme ich Bums! hinter meine Waza. In den Shōtōkan-Richtungen existiert dafür in der Theorie eine schlicht klingende, öfter zu hörende Formel: „Druck zum Boden.“ So oder ähnlich wird diese Theorie in Worte gefaßt. Noch kürzer ist Osae.

Obwohl nun Lehrkräfte scheinbar aller Shōtōkan-Gruppierungen diese Theorie als Lehrsatz gebrauchen, unterscheidet sich die körperliche Umsetzung von Sensei zu Sensei. Oder sie unterscheidet sich von Gruppierung zu Gruppierung. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachen, doch er ist vorhanden.

O.k., hier taucht ein Problem auf. Ich borge mal schnell das Klischeebild vom „leeren Becher“. Wie viele Karateka gingen oder gehen mit einem wirklich „leeren Becher“ in das Training eines fremden Sensei? Eben! Häufig sind starrsinnige oder unbeholfene Ignoranz und Besserwisserei die liebgewordenen Begleiter im Training, in jedem Training…

Wer nicht in der Lage ist, zuzusehen, hinzuhören, zu verstehen, nun, dem werden technische Unterschiede, ganz zu schweigen von technischen Feinheiten, ganz einfach nicht klar werden.

Gerade bei der Krafterzeugung im Shōtōkan-Ryū – „Druck zum Boden“, „Druck mit dem hinteren Bein“, „Osae“ usw. – gibt es viele kleine Unterschiede. Im Fall einer bestimmten Vereinigung sind die Gelenke sehr stark involviert. Und Überraschung: Ältere Sensei dieser Vereinigung laufen mit Hüft- und Knieproblemen durch die Karate-Welt. In einem anderen Fall läuft Osae eher über den bewußten Einsatz bestimmter Muskeln. Die genauen Unterschiede schriftlich zu klären, ist nicht möglich. Wichtig finde ich jedoch, daß diese Unterschiede ins Bewußtsein rücken müssen. Wer sie kennt, der weiß (jenseits gestueller Unterschiede) ziemlich rasch, aus welcher Shōtōkan-Richtung ein fremder Karateka kommt. Wer sie kennt, der kann zielorientiert trainieren, ohne sich von solchen Unterschieden verwirren zu lassen.

Beim Kata-Training wird ziemlich deutlich, wer mit Osae vertraut ist und wer nicht. Ein Anzeichen ist z.B. die Fußaußenkante oder die Ferse. Befindet sich eine von beiden in kritischen Augenblicken in freier Schwebe, dann kann kaum von echtem Verständnis oder Einsatz von Osae gesprochen werden.

Kurzgefaßt ist es sinnvoll, folgende Punkte zu bedenken:

  • Weiß ich etwas von „Osae“?
  • Verfügt mein Trainer/Lehrer/Sensei über Osae?
  • Kann er es vermitteln?
  • Bin ich mir über Unterschiede im klaren?
  • Kann ich es praktisch umsetzen?

Für den Sport-Karateka sind sowohl diese Fragen, als auch die entsprechenden Antworten bedeutungslos. „Krafterzeugung“ ist für ihn eher unwichtig. Im Budō-Karate dagegen sind diese Fragen grundlegend wichtig und die individuellen Antworten geben Auskunft darüber, wohin mich mein Keiko führt und ob es mich überhaupt irgendwohin führen kann.

© Henning Wittwer

Dienstag, 24. Mai 2011

Erinnerung an Funakoshi Yoshitaka aus dem Shōtōkan-Ryū

Heute kennen wahrscheinlich viele geschichtlich interessierte Anhänger des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū den Namen Funakoshi Gichin. Scheinbar unbekannt, zumindest aber sehr viel weniger bekannt ist der Sohn von Funakoshi Sensei, Funakoshi Yoshitaka Sensei. (Sein Name kann bei gleichen Schriftzeichen auch Funakoshi Gigō gelesen werden.)

Wenige Karate-Anhänger scheinen zu wissen, daß Funakoshi Yoshitaka Sensei zum direkten Assistenten seines Vaters berufen wurde. Somit wirkte er aktiv und weiträumig bei der Ausarbeitung und beim Unterrichten des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū mit. So verdanken wir ihm Übungsformen, wie Ten no Kata, Chi no Kata oder auch die Stock-Kata Matsukaze no Kon, die er mit Hilfe seines Vaters zusammenstellte.

Durch diese Übungsformen stellte er klare Richtlinien auf, wie Shōtōkan-Ryū auszusehen hat und wie es folglich geübt und umgesetzt wird. Seinem Einsatz verdanken wir also, daß unser Training nicht auf Spekulationen über Inhalte beruht, sondern auf konkretem, in der Praxis getestetem Lehrstoff.

In meinem Fall war es tatsächlich so, daß mich manchmal nur vage, aber um so phantastischere Geschichten über die Person von Funakoshi Yoshitaka Sensei zu meinem heutigen Karate-Lehrer brachten. Denn Harada Sensei entstammt einer Übertragungslinie, die unmittelbar auf Yoshitaka Sensei zurückgeht. Sie ist einzigartig.

Hier möchte ich noch einen Gedanken meines Karate-Lehrers anschließen. Er stellte schon manches Mal die Frage in den Raum, wie denn die Karate-Welt heute aussähe, wenn Yoshitaka Sensei nicht schon so jung verstorben wäre. Seiner Meinung nach, gäbe es dann mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Wettkampf innerhalb der Shōtōkan-Strömung, es würde ein ganz anderes technisches Niveau vorherrschen und die JKA wäre wohl nie gegründet worden…

Zur Person, zum Wirken und zum technischen Einfluß von Funakoshi Yoshitaka Sensei finden Sie viele Details (die korrekten…) in Band I und Band II meines Buchs.

Update 2018: Im neu erschienenen Band III stelle ich fünf Unterweisungen von Funakoshi Yoshitaka Sensei sowie eine Lebensbeschreibung vor.

© Henning Wittwer

Donnerstag, 5. Mai 2011

Karate und Ch’i-Kung

Hier möchte ich kurz zeigen, welchen Nutzen Ch’i-Kung (oder in einer anderen Umschrift Qì-Gōng) für das Training im orthodoxen Karate-Dō Shōtōkan-Ryū hat – nämlich keinen!

Auf meiner Suche nach gehaltvollerem Karate kam ich nicht umhin, mich mit chinesischem Ch’i-Kung auseinanderzusetzen. Gerade seit Anfang der 1990er Jahre schwappte es als Modewelle ins Karate. Weil es seit da als „unabdingbar“ für „echtes“ Karate beschrieben oder vermarktet wurde und künstliche historische Zusammenhänge vorgestellt wurden, fing ich an, mich aktiv damit auseinanderzusetzen.

1998 konnte ich dann bei Aoki Osamu Sensei, einem Vertreter einer japanischen Version des Ch’i-Kung (jap.: Kikō), trainieren. Er ist nicht nur ein hervorragender Kikō-Lehrer, sondern gleichzeitig ein Ausbilder aus den Reihen des JKA-Shōtōkan. In seinen Kikō-Trainings verwies er immer wieder mal auf seine Karate-Praxis.

Jedenfalls ging er – nach dem Training – freundlicherweise auch auf meine Fragen ein. Da ich in seinen Kikō-Trainings eine gewisse Ähnlichkeit zu Ideen von Egami Shigeru Sensei (die ich zu diesem Zeitpunkt nur theoretisch kannte) auszumachen glaubte, sprach ich ihn darauf an. Kurz gesagt, lautete sein Fazit:

„Was Egami Sensei macht, ist Budō. Wir machen mehr Sport.“

Seine ehrliche Antwort beeindruckte mich. (Und sie ließ mich weitersuchen…)

Jahre später kam mein Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, auf das Thema Kikō (Ch’i-Kung) zu sprechen. Dabei erwähnte er, daß er davon ausgeht, daß Kikō tatsächlich medizinisch wirksam ist und einen derartigen Nutzen hat. Doch daraufhin wurde er sehr ernst und erklärte:

„Herr XY verband Kikō mit Karate. Aber das hat nichts mit dem Shōtōkai und Herrn Egami zu tun! Es sind zwei verschiedene Dinge.“

Dazu sollte ich noch erwähnen, daß Harada Sensei direkt von Egami Sensei unterrichtet wurde.

Hier liegen also die Aussagen zweier echter Fachmänner vor, die beide aus Sicht der Praxis besagen, daß Kikō / Ch’i-Kung / Qì-Gōng nichts mit dem Karate aus der Shōtōkan-Strömung zu tun hat.

Meiner Meinung nach haben Personen, die zusätzlich zum Karate mit der Übung einer Richtung des Ch’i-Kung beginnen, das starke Bedürfnis, eine Lücke zu schließen, die sie in ihrem Karate-Training spüren. Sie wissen nicht, was und wie genau sie trainieren sollen, um Fortschritte zu erzielen, oder weshalb sie überhaupt trainieren. Zudem benötigen sie unter Umständen „Zusatzangebote“, um sich und ihr Karate besser vermarkten und „mehr Abwechslung“ schaffen zu können.

Andersherum sollte sich jeder Karate-Anhänger die Frage beantworten, wieviel Zeit ihm für sein Karate-Training zur Verfügung steht. Unter der Voraussetzung, daß ich weiß, was und wie ich zu trainieren habe, verbessert jede Minute Karate-Training mein Karate; jede Minute Ch’i-Kung mein Ch’i-Kung (aber eben nicht mein Karate). Jede praktisch oder theoretisch für Ch’i-Kung aufgebrachte Minute geht meinem Karate-Training verloren…

© Henning Wittwer

Donnerstag, 14. April 2011

Mehr Training

Unter den Karate-Philosophen gibt es welche, die „Training um des Trainings willen“ durchführen. Diese Einstellung ist aus meiner Sicht Zeitverschwendung und sie führt genau dazu – Training um des Trainings willen! Im Karate als Budō verfolge ich ein klar umrissenes technisches Ziel. Wenn ich also trainiere, dann weil ich mich technisch verbessern will.

Derzeit liegt mein Schwerpunkt im Solotraining bei den Kata (ich beschränke mich hier auf sie, denn nur über sie kann ich hier relativ unproblematisch schreiben) Gankaku, Jion und Sakugawa no Kon.

Sakugawa no Kon übe ich derzeit verstärkt, weil sie Gegenstand meines nächsten Karate-Lehrgangs sein wird. Abgesehen davon ist sie natürlich von grundlegender Bedeutung im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū.

Jion stand schon Anfang des Jahres auf meinem Trainingsplan, aber selbstkritisch kehre ich zu dieser Kata zurück – es gibt einfach zu viele Punkte, die dabei zu beachten sind. Mit einem klaren Ziel vor Augen habe ich immer einen sehr guten Grund für mehr Training…

Zwei super Punkte bei Gankaku sind all die Keri-Waza und die manchmal etwas unorthodoxen Bewegungsübergänge oder Kombinationen. All das schreit nach mehr Training!

© Henning Wittwer

Dienstag, 29. März 2011

Leere Hände und Stock im orthodoxen Shōtōkan-Ryū

"Im Shōtōkan Karate-Dō sind die Kunst des Stocks und Karate-Dō die Außen- und Innenseite eines Körpers."  – Vor Jahren fand ich diese Aussage in der Werbung für ein japanisches Dōjō. Technischer Kopf der dazugehörigen Übungsstätte war ein älterer Lehrmeister, dessen Übertragungslinie direkt zurück ins historische Shōtōkan (1938-1945) führt. Freier bedeutet sie:

Stock und leere Hand gehören im Shōtōkan-Ryū zusammen wie Pech und Schwefel. Sie sind Teile ein und derselben Sache.

Auch mein eigener Karate-Lehrer, Harada Mitsusuke Sensei, betont immer wieder, daß „unsere Tradition vom kommt“. Damit meint er, daß das Karate aus seiner Übertragungslinie, die unmittelbar dem historischen Shōtōkan entstammt, auf der Kunst des Stockes beruht, die Kunst des Stockes als technische Basis hat.

Erst einmal hört sich das nicht wirklich weltbewegend an. Doch bei näherer Betrachtung – bei viel und bewußtem Training – wird schnell klar, welche Bedeutung beide Aussagen aus technischer wie aus historischer Sicht haben. Während meiner ersten Karate-Jahre las ich ein englisches Interview mit Nakayama Masatoshi Sensei, dem technischen Leiter der JKA. Darin erklärte er überzeugt, daß Training mit Waffen, wie dem Stock, nichts mit echtem Budō (also dem, was er als "Budō" verkaufte) zu tun hätte. Natürlich hinterließ diese Aussage einen mehr oder weniger prägenden Eindruck bei mir, der sich erst später, dafür aber umso grundlegender änderte.

Das Karate aus dem historischen Shōtōkan hatte nicht die gleiche Zielsetzung wie das von der JKA vertretene Karate. Es gibt enorme technische Unterschiede. Und ein Unterschied stellt eben das Stocktraining innerhalb des Lehrplans dar, d.h. es ist kein exotischer Zusatz, sondern normaler Bestandteil, ja technische Grundlage.


Aus technischer Sicht gibt es viele Punkte, die eben dies belegen. Ein simples Beispiel ist die Tatsache, daß im Karate-Dō Shōtōkan-Ryū die Haltung Hanmi bevorzugt wird. Niemand positioniert sich mit Stock oder Speer in einer frontalen Haltung (also zumindest niemand, der Ahnung hat). Darauf aufbauend nehme ich mit „leeren Händen“ häufig ebenso Hanmi an.

Hinzu kommt, daß sich viele technische Punkte mit Hilfe eines (oder Kon) sehr viel einfacher und – vom körperlichen Standpunkt aus – verständlicher aneignen lassen. Er ist ein phantastisches Hilfsmittel zum Aufbau des "Karate-Körpers".

Wie sieht nun die Übung mit dem Stock im Karate-Dō Shōkan-Ryū aus? Ganz am Anfang stellte ich hier im Blog eine Liste mit den von mir trainierten Kata vor (http://gibukai.blogspot.com/2010/09/meine-kata-liste.html). Darin finden sich auch vier Stock-Kata. Und genau diese Stock-Kata stellen die grundlegenden Lehr- und Übungsmittel dar. Ihre Namen lauten:
  • Shūji no Kon
  • Sakugawa no Kon
  • Matsukaze no Kon
  • Shirotaru no Kon
Shūji no Kon entspricht vom Niveau her den Kihon-Gata Heian und Tekki, d.h. sie sollte am Anfang gelernt werden. Dann werden diese Stock-Kata wie all die anderen Kata ganz „normal“ neben anderen Übungsformen im Training genutzt.

Obendrein empfahl Egami Shigeru Sensei verschiedene Bō-Kuguri, allgemeinere Übungen mit dem Stock, die dazu dienen, den Körper geschmeidiger zu machen. Ein geschmeidiger Körper ist ganz klar eine Bedingung für wirksame Techniken im orthodoxen Shōtōkan-Ryū.

Um nun eine theoretische Ausgangsbasis zu schaffen, erläuterte ich ein paar Hintergründe zu diesem Thema in meinem Buch und werde demnächst weiteres Material zum Nachlesen liefern. Zur Verbindung von Theorie und Praxis begann ich, Lehrgänge zum Stock im Shōtōkan zu geben, wie diesen hier:

http://gibukai.blogspot.com/2011/01/shotokan-stock-lehrgang-am-16-17-april.html

In Vorbereitung des Lehrgangs schrieb ich diesen kleinen Beitrag.

© Henning Wittwer

Freitag, 11. März 2011

Harada Mitsusuke Sensei – Bilder und Einsichten von 1963

Lange bevor ich selbst geboren wurde, suchten spanische Reporter Paris auf, um sich ein Bild vom in Europa noch relativ unbekannten Karate zu machen. Dabei wurden sie Zeuge einer Trainingseinheit, die Harada Mitsusuke Sensei leitete.

Sie charakterisierten Karate als „wissenschaftliche“ Form des Kampfes, die sich auch für Menschen eignet, die nicht besonders schwer sind und die nicht auf schiere Kraft bauen. Karate biete schließlich eine echte Möglichkeit der menschlichen Entwicklung.

Für mich ist es natürlich aufregend, Harada Sensei Mitte Dreißig in Aktion zu sehen. Allgemein stellt dieser Artikel ganz klar auch ein interessantes historisches Dokument des Karate in Europa dar. Klicken Sie bitte auf die Links unten, um die fünf Seiten zu betrachten:

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© Henning Wittwer

Samstag, 5. März 2011

Die berühmten 3 K: Kihon, Kata & Kumite

Wenn bestimmte Gedanken nur oft genug wiederholt werden, dann werden sie zu einer Art Norm. In Karate-Kreisen gibt es ebenfalls solche Normen, die eigentlich nur akzeptiert werden, weil sie fast immer und überall nachgeplappert werden. Sie können die Geschichte, Lehre oder z.B. auch die Trainingsmethode betreffen.

Im Umfeld des JKA-Shōtōkan (eigentlich ist die Sache komplexer) gibt es eine heilige Trainingsnorm, die immer und immer wieder beschworen wird – die berühmten 3 K: Kihon, Kata und Kumite.

Jeder, der sich mit der Geschichte der Kampfkunst Ryūkyūs auseinandersetzt, wird früher oder später merken, daß sich da irgendwie ein K dazumogelte. Oder anders gesagt, bei den 3 K ist ein K zuviel.

Kihon ist dieses K, das sich hinzuschlich. Unter Kihon wird meist dieses stoische Wiederholen von Einzelgesten oder Kombinationen, entweder auf der Stelle oder in der Halle auf- und abmarschierend verstanden, wobei eine Person brüllend Kommandos erteilt: „Ichi! – Ni! – San!“ Und genau darauf beziehe ich mich hier. Kihon ist tatsächlich nichts anderes als Training für eine bessere Kata-Aufführung. Kihon soll die Kata-Vorführung „kräftiger“, effektvoller, zackiger, kurzum „besser“ machen. Aber so war das nicht vorgesehen mit der Kata:

Kata war und ist die eigentliche Grundlage (auf Japanisch: „Kihon“) des Karate!

Was bedeutet das für mein Training? Nun, ich trainiere Kata, um diese dann gemeinsam mit Partnern anwenden zu lernen, was Kumite genannt wird (und bestimmt nichts mit der heute populären Praxis des „Bunkai“ zu tun hat). Eigentlich ist es doch ganz einfach: Kata = Grundlage; Kumite = Anwendung der Grundlagen.

Dieses dritte K ist für mich also belanglos, weil ich Kata eben nicht für Wettkampfschauvorführungen o.ä. trainiere.

© Henning Wittwer

Dienstag, 22. Februar 2011

Interview

Thomas Feldmann, engagierter Betreiber des HOPLOblogs, lud mich zu einem kleinen Interview ein. Ein gutes Interview hängt sehr von guten und interessanten Fragen ab. Und seine Fragen fand ich gut und beantwortete sie gern. U.a. geht es um meinen Karate-Hintergrund und Fragen zur Forschung auf dem Gebiet des Budō.

Auf dem beigefügten Bild befinde ich mich im nördlichen Kamakura, Japan, und stehe dort neben einem Gedenkstein für Funakoshi Gichin Sensei. Bei einer seiner Inschriften handelt es sich um ein Gedicht von ihm, auf das ich mich im Interview beziehe.

Lange Rede, kurzer Sinn, hier ist der direkte Link zum Interview:

http://hoploblog.wordpress.com/2011/02/21/sieben-fragen-an-henning-wittwer/

© Henning Wittwer

Montag, 7. Februar 2011

Tekki – Über den Zweck und den Sinn einer Kata

Hier folgen ein paar Erläuterungen zur Kata-Serie Tekki, alias Kiba-Dachi no Kata, alias Naihanchi, die sich hauptsächlich auf die Übungspraxis beziehen.

TEKKI ALS GRUNDLAGE DES KARATE ALS LEIBESERZIEHUNG UND KAMPFKUNST


Die Tekki-Serie gehört zu den grundlegenden Kata des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū. Aus Sicht des Trainings gibt es dafür zwei Hauptgründe:

Erstens gab es zur Zeit von Itosu Ankō Sensei noch keine Fitneßstudios und keine Youtube-Fitneßtips. Um körperlich fit zu werden, wurden entweder europäische Gymnastiksysteme verwendet oder eben Kampfkunst. Itosu Sensei nutzte die Kampfkunst als Möglichkeit der Leibeserziehung innerhalb des Schulsystems der Präfektur Okinawa. Am Anfang unterrichtete er zu diesem Zweck seine drei Naihanchi (Tekki). Später kam Pinan (Heian) hinzu, aber Naihanchi wurde meistens bevorzugt.

Der Grund ist (1) die relative Einfachheit und (2) der nachvollziehbar ansteigende Anspruch für Anfänger in der Leibeserziehung (ja, der Begriff klingt angestaubt, ist aber korrekter als 'Sport').

(1) Mit Naihanchi wird niemand überfordert, weil keine Drehungen, Sprünge oder hohe Tritte trainiert werden; und die Armbewegungen selbst sind auch nicht zu kompliziert. Ein Wettkämpfer, der Unshu (Hatsuun) trainiert, wird das belächeln – aber genau das war ein Ziel. Schüler aller Grundschulen sollte in der Lage sein, diese Übungsform nachzuvollziehen und umzusetzen.

(2) Die erste Stufe von Naihanchi besteht aus zwei symmetrischen Hälften. Stufe zwei ist etwas schwieriger, da sie aus vier Teilen besteht, wobei das erste und das zweite Viertel sowie das dritte und das vierte Viertel symmetrisch sind. Die dritte Stufe ist dann völlig unsymmetrisch. So gab es für die Schüler von Stufe zu Stufe eine kleine Steigerung.

Zweitens ist vom Standpunkt der Kampfkunst aus ebenfalls die relative Einfachheit der Grund dafür, daß sie als Grundlage des Karate betrachtet wird. Einfachheit bedeutet aber nicht Anspruchslosigkeit. Mit Hilfe von Naihanchi können ganz grundlegende Fertigkeiten aufgebaut werden. Z.B. ist da das seitliche Gehen, bei dem ich u.a. lerne, w i e ich meine Beinmuskeln für „starke“ technische Anwendungen einzusetzen habe. Klar, mit „Bunkai“ hat das gar nichts zu tun, vielmehr mit zielgerichtetem Muskelaufbau, „Körpermechanik“ und dem Wie des Körpergebrauchs. Doch genau für dieses Wie benötige ich einen Sensei, der es mir vermittelt. Denn durch bloßes Abspulen des Ablaufs lerne ich nichts anderes als das bloße Abspulen des Ablaufs.

„Grundlage der Kampfkunst“ meint im übrigen nicht nur Grundlage der unbewaffneten, sondern auch der bewaffneten Teile der Kampfkunst Ryūkyūs. D.h., wenn ich die technischen Hürden von Naihanchi überwunden und verinnerlicht habe, kann ich diese „Körpermechanik“ mit weiterer Übung auch auf das Feld der Waffen – /Kon, Sai usw. – übertragen.

TEKKI UND ORTHODOXES SHŌTŌKAN-R

Im Shōtōkan-Ryū gibt es, abgesehen von Ten no Kata und Taikyoku, zwei Kihon-Gata, nämlich die Heian- und die Tekki-Serie. Eigentlich würde eine Kihon-Gata ausreichen, aber Funakoshi Gichin Sensei wollte unbedingt die zwei Ausprägungen des „Karate“ unter einem Dach lehren. Diese zwei Ausprägungen waren Shōrin-Fū – lies: Asato-Ha – und Shōrei-Fū – lies: Itosu-Ha. Heian bildet die Grundlage für Shōrin-Fū. Tekki bildet die Grundlage für Shōrei-Fū. Heutzutage wird meist die Heian-Serie betont und Tekki ist so eine Art notwendiges Übel, was daran liegt, daß die Unterschiede zwischen Shōrin-Fū und Shōrei-Fū mehr oder weniger ignoriert werden.

Jedenfalls gab Funakoshi Sensei seinen Schülern zwei inhaltlich verschiedene Grundlagen-Kata zum Üben, eben Tekki und Heian. Seiner Meinung nach sollten so die jeweiligen Vor- und Nachteile beider Ausprägungen verknüpft bzw. beseitigt werden.

Insbesondere für das Karate aus dem historischen Shōtōkan (1938-1945) war Tekki als Grundlage unabdingbar. Ungeachtet der anderen Adepten aus jener Zeit, geht die Übertragungslinie meines Karate-Lehrers direkt auf Funakoshi Yoshitaka Sensei zurück. Dadurch kommt es zu verschiedenen Besonderheiten, die sich auch im Wie des Körpergebrauchs niederschlagen. Und da Tekki die Grundlage ist, unterscheidet sich unser Ansatz zum Körpergebrauch von dem anderer Shōtōkan-Richtungen. Das ist wichtig!

Wir trainieren Tekki ziemlich regelmäßig und häufig, um genau diese Art des Körpereinsatzes kennenzulernen, auszubilden, zu verfeinern und zu pflegen. Ohne ihm bliebe unser Karate eine leere, gestuelle Hülle. Genau da liegt übrigens auch ein Hauptproblem der Bunkaiisten: Sie nehmen 1001 Bewegungsmuster („Anwendungen“) und halten diese stolz für Kampfkunst, für „richtiges“ Karate. Tatsächlich ist es mehr Schein als Sein...

Neben dieser „inneren“ Komponente, gibt es einen wichtigen „äußerlichen“ Faktor, der Tekki für orthodoxes Shōtōkan-Ryū bedeutsam macht. Wir benutzen ständig den Fudō-Dachi. Und dieser ist nichts anderes als eine abgedrehte Variante des Kiba-Dachi aus Tekki. Alles, was ich mittels Tekki bezüglich Struktur und Gebrauch des Körpers lerne, läßt sich unmittelbar auf den Fudō-Dachi übertragen. Besonders Yoshitaka Sensei soll diese Verbindung erkannt und vermittelt haben. Mehr zum Fudō-Dachi schrieb ich hier: http://gibukai.blogspot.com/2010/12/fudo-dachi-ein-markenzeichen-des.html

KUMITE ZUR TEKKI
Tür-Schließer-Tritt als erklärender Vergleich für Nami-Gaeshi in Tekki Shodan.

Bei den Kumite-Formen, die mit Tekki in Zusammenhang stehen, kommt der Nahkampf (Greifabstand) besonders zum Tragen. Natürlich ist das nicht alles. Da Tekki und Fudō-Dachi miteinander in Bezug stehen, dehnen sich die in Tekki erlernten Mechanismen und Bewegungsmuster auf alle weiteren Kumite-Formen aus, egal um welchen Abstand es sich handelt.

Karada no Shinshuku beispielsweise lernte ich von meinem Karate-Lehrer mittels Tekki in sehr präziser Art und Weise. Wenn ich diese Mechanismen in der Solo-Kata einsetzen kann, ist der nächste Schritt, sie in entsprechenden Kumite-Formen umzusetzen.
Pose „Anheben beider Ellbogen“ als erklärender Vergleich für Tekki Nidan.

Ich selbst finde historische Vergleiche bei diesen Kumite-Formen sehr interessant. In aktuellen Versionen der „Kata“, die ich für die chinesische Urform von Tekki halte – und die Ta Fan-Ch'ê heißt – gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten. So ist meiner Ansicht nach die überlieferte Kumite-Form für Nami-Gaeshi aus Tekki Shodan eine Anwendung des „Tür-Schließer-Tritts“ (Pi-Mên T’i T’ui-Fa) aus Ta Fan-Ch'ê. Oder es dürfte sich bei der überlieferten Kumite-Form zur Doppelellbogen-Position aus Tekki Nidan um eine Anwendung der „Pose des gleichförmigen Anhebens beider Ellbogen“ (Chung-P'ing Shuang-T'i-Chou Shih) aus Ta Fan-Ch'ê handeln usw. usf. Es sind erstaunliche Parallelen...

Aber noch einmal: Ohne körperlicher Grundlage (Solo-Kata Tekki), kein Kumite, bestenfalls Herumgefuchtel.

Schließlich möchte ich noch darauf hinweisen, daß sich in meinem Buch ausführliche Betrachtungen zu historischen Hintergründen der Tekki-Serie finden.

© Henning Wittwer

Dienstag, 18. Januar 2011

Shōtōkan Stock Lehrgang am 16. & 17. April 2011 in Niesky / Sachsen

Zum siebten Mal findet in Niesky ein Karate-Lehrgang mit meiner Wenigkeit statt, bei dem es um den Shōtōkan-Stock geht. Wir werden uns eingehend mit den - bzw. Kon-Formen Shūji no Kon (Shūshi no Kon) und Sakugawa no Kon beschäftigen.

Samstag Vormittag bieten wir zwei Gruppen an. Gruppe A umfaßt Karateka, die bisher an keinem Shōtōkan-Stock-Lehrgang teilgenommen haben, aber mindestens so weit sind, daß sie die ersten drei Heian-Formen kennen. Durch diese Aufteilung bekommen die Einsteiger einfach mehr Aufmerksamkeit und typische Fehler können von Anfang an noch besser im Zaum gehalten werden.

Gruppe B sind dann diejenigen, die schon öfter dabei waren. Dementsprechend wird dieses Training aufgebaut sein.

Für weitere Informationen klicken Sie bitte auf die beigefügte Einladung.


Grundsätzlich ist dieser Lehrgang offen für Teilnehmer aller Shōtōkan-/Shōtōkai-Richtungen. Aber die Teilnehmerzahl ist wie immer begrenzt. Wenn Sie also Interesse haben, melden Sie sich bitte beim Ausrichter, Nippon Niesky e.V., oder bei mir an! Auch inhaltliche Fragen können Sie gerne an mich richten:



© Henning Wittwer

Samstag, 15. Januar 2011

Und das Training geht weiter...

Als nächsten kleinen Trainingsschwerpunkt wählte ich die Kata Hakkō. Einigen Leuten zufolge gehörte Hakkō zu den Lieblingen von Funakoshi Yoshitaka Sensei. Da Yoshitaka Sensei größte Bedeutung in der Übertragunglinie meines Karate-Lehrers hat, ist es für mich durchaus ein besonderes Gefühl, wenn ich eine seiner bevorzugten Kata übe.

Einer der wichtigen Punkte, der bei dieser Kata zu beachten ist, ist der korrekte Einsatz des Rumpfs. Daneben höre ich natürlich immer, selbst wenn er gar nicht da ist, eine ganz grundlegende Anweisung meines Karate-Lehrers:

„Mehr Entspannung in den Schultern!

Ich kann gar nicht sagen, wie oft ich diesen Satz schon hörte – und immer hat er recht... In Hakkō gibt es jedenfalls genügend Spielraum, um ausführlichst darauf zu achten.

Weil ich Shirotaru no Kon gerne mal unbeachtet lasse, werde ich mich außerdem in nächster Zeit verstärkt dieser Stock-Kata widmen. Wie auch Hakkō gehört sie zu den Fuzoku-Gata des Karate-Dō Shōtōkan-Ryū und dementsprechend ist Shirotaru no Kon eine der seltener praktizierten Kata meiner Strömung.

Schultern und Rumpf gilt ebenso bei Shirotaru no Kon mein Hauptaugenmerk. Wenn diese körperlichen Grundbedingungen nicht in Fleisch und Blut übergehen, bleiben wirksame technische Anwendungen – selbstredend  meine ich damit nicht den Wettkampf – ein frommer Wunschtraum...

In diesem Sinne wünsche ich motiviertes und intensives Training!

© Henning Wittwer

Dienstag, 11. Januar 2011

Modewellen

Durch die Welt der Kampfkunst und des Kampfsports rauschen in regelmäßigen Abständen Modewellen. Einige sind kleiner, andere sind größer, ganz wenige entwickeln sich zu regelrechten Monsterwellen. Diese Erscheinung ist nicht neu; doch – rein vom Gefühl her – wälzen sie sich in immer kürzeren Abständen über uns.

Allgemein war in Deutschland vor Jahrzehnten etwas, das „Jiu-Jitsu“ genannt wurde, der letzte Schrei. Diesem folgte dann Jūdō. Später war Karate, mit seinen geheimnisvollen und selbstverständlich „extrem tödlichen Handkantenschlägen“, der Renner. Bald darauf mußte ein Kampfkünstler, der etwas auf sich hielt, zum Ninja ausgebildet werden – „seriös“ ging das gewiß nur im eingetragenen Verein...

Solche Modewellen ergossen sich ebenfalls über die Karate-Welt. Tatsächlich tun sie das noch immer.

Am Anfang war das Bild des Karate-Treibenden in Deutschland vor allem das einer „harten Kampfmaschine“ – und zwar solange, bis die damaligen japanischen Karate-Pioniere den eigentlichen Kurs vorgaben: Karate ist ein Wettkampfsport, so richtig mit regionalen, nationalen und globalen Meisterschaften. Super! Der Karateka konnte Weltmeister werden!

Bald darauf kam die Philosophenwelle. Für Leute, die sich von ihr mitreißen ließen, war Karate weder blutiges Gemetzel, noch profaner Sport. Nein, Karate ist so wie bei dem Pseudochinesenmönch in dieser TV-Serie, „Kung Fu“, so mit Zen-Buddhismus, Taoismus und all den weisen Sprüchen, Weg zur Erleuchtung und nebenbei noch die „Bösen“ vermöbeln – natürlich so friedvoll wie's geht...

Diese wiederum löste die Flutwelle des „traditionellen Karate“ aus. Dabei wurde der Begriff „Tradition“ von den Möchtegernexperten derart verdreht, daß heute kaum noch einer erklären kann, was denn Tradition im Karate sein soll. Eigentlich ist es ganz einfach: Karate, das von einem Lehrmeister (oder mehreren) zum nächsten tradiert, überliefert wurde, ist „traditionelles Karate“ im Wortsinn. Leider standen unsere Möchtegernexperten nicht wirklich (bestenfalls sporadisch)  in solch einer Tradition. Daher wurde einfach alles, was nicht an Wettkämpfen teilnimmt, als „traditionelles Karate“ ausgegeben. Und weil Sport-Karate ohne Wettkampf (mehr war und ist das Karate dieser Experten nicht) ziemlich öde sein kann, mußten aufregende Zusätze her: also borgen, was das Zeug hält...

So wurde beispielsweise Anfang der 1990er Jahre Ch'i-Kung, das plötzlich allerorten en vogue war, von einigen Neotraditionalisten ins Karate gepfropft. Endlich mehr Tiefgang! Diesen Tiefgang erhoffte man sich vor allem auch durch die größere Welle des „Bunkai“. Dabei ging und geht es darum, möglichst alles, was einem in den Sinn kommt, in wehrlose Kata hineinzuinterpretieren. Und Kata widersetzen sich nicht; sie sind schweigsam und geduldig... Nun, dieses Bunkaiistentum wiederum bildete den Nährboden für die Anhänger des Vitalpunktkults.

Was auch immer einige als „reales Kämpfen“ betrachten, in der darauf folgenden Welle der Mixed Martial Arts schienen sie diesbezüglich das Α und Ω zu sehen und implantierten sie bereitwillig ins Karate. Und die nächsten Modewellen poltern schon am Horizont...

Grundsätzlich sind diese Modewellen nicht wirklich schlimm. Allerdings gibt es ein paar kritische Punkte, die mich zu diesem Artikel veranlaßten:
  • Zunächst gibt es Karateka, die sich gar nicht darüber im klaren sind, daß das von ihnen ausgeübte Karate Produkt einer bestimmten Modewelle ist. Da sie es aber so kennengelernt haben, würden sie schwören, daß Karate im allgemeinen, also herkömmliches Karate oder Karate wie vor meinetwegen 100 Jahren, genauso gewesen sein und noch immer so sein muß.
  • Modewellen befördern immer Personen an die Oberfläche, die durch sie profitieren wollen, sei es materiell oder ideell. Nicht in jedem Fall sind diese Personen tatsächlich kompetent. Ihr Ansehen ergibt sich durch die Modewelle, auf der sie reiten oder die sie selbst ins Rollen brachten. Und wenn etwas in Mode ist, dann kann es doch bloß richtig sein, oder?
  • Bestimmte Personen verspüren den Drang, in möglichst vielen Modewellen mitzuschwimmen, um „am Markt mithalten zu können“. Unterm Strich führt das verständlicherweise zu einem eher oberflächlichen Wissen und Können...
  • Ist jemand am herkömmlichen Karate interessiert, dann helfen Modewellen nicht, sondern sie vernebeln den Zugang und führen in ganz andere Richtungen. Beispielweise kann eine bestimmte technische Fertigkeit in einer Übertragungslinie des herkömmlichen Karate soundso sein. Trainer XY aber, der durch eine Modewelle beeinflußt (direkt durch Training oder indirekt durch Buch bzw. DVD) diese technische Fertigkeit (neu) lernte, erklärt lautstark, es müsse ganz anders sein...
Ich schrieb das aus eigener Erfahrung. Herkömmliches Karate fand und findet in kleinem Kreis statt und es hat technische Werte, für die Modewellen belanglos sind.

© Henning Wittwer